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Riegel, Christine:
Bildung – Intersektionalität – Othering. Pädagogisches Handeln in widersprüchlichen Verhältnissen / Christine Riegel. – Bielefeld : transcript, 2016. – 361 S.
ISBN 978-3-8376-3458-7
Pädagogisches Handeln ist in Macht- und Herrschaftsverhältnisse verstrickt. Selbst eine Bildungspraxis, die die vorherrschenden sozialen Ungleichheitsverhältnisse kritisch hinterfragt, ist in diese Verhältnisse verwoben. Das stellt Bildungsarbeit vor große Herausforderungen. Diese Herausforderungen werden in erziehungswissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Differenz und Ungleichheit diskutiert. Dabei stehen zumeist einzelne Diskriminierungsverhältnisse, wie z. B. Rassismus, im Mittelpunkt. Es geht um das Involviertsein aller an der pädagogischen Praxis beteiligten Akteur*innen wie der Bildungsinstitutionen in Differenz- und Dominanzverhältnisse sowie um die Möglichkeiten für Überschreitungen der Verhältnisse. Christine Riegel, Professorin an der Pädagogischen Hochschule Freiburg, erweitert diese Diskussion um eine intersektionale Analyseperspektive, die die interdependente Überlagerung verschiedener gesellschaftlicher Unterdrückungs- und Machtverhältnisse in den Blick nimmt.
Die Autorin untersucht pädagogische Umgangsweisen mit Differenz und Ungleichheit und fokussiert dabei Prozesse der sozialen Konstruktion von „Anderen“. Hierfür schließt sie an postkoloniale Theoriebildung an: Mit Rückgriff auf die Konzeption des „Othering“ untersucht Riegel Handlungen von pädagogisch Professionellen, die bestimmte Gruppen mittels Differenzzuschreibungen als „die Anderen“ hervorbringen und festschreiben – als abweichender Gegenpart zu einem gleichzeitig als normal definierten „Wir“. Dabei konzeptualisiert sie Othering aus intersektionaler Perspektive und nimmt an, „dass für Othering- und Differenzierungsprozesse verschiedene soziale Macht- und Ungleichheitsverhältnisse ineinandergreifen“ (11) (Kapitel 1 und 2). Aus poststrukturalistischer und dekonstruktivistischer Perspektive ist es Riegels Anliegen zu untersuchen, wie Otheringprozesse auf Bildungsmöglichkeiten Einfluss nehmen sowie zur Aufrechterhaltung von hegemonialen Differenzordnungen und den damit verbundenen Ungleichheits- und Diskriminierungsverhältnissen beitragen. Dabei verfällt Riegel nicht in Pessimismus. Im Gegenteil, im Sinne kritischer Forschung interessieren die Autorin neben den Prozessen der Reproduktion die bestehenden Möglichkeiten für Veränderungen, die Pädagog*innen bei ihrem „Handeln in widersprüchlichen Verhältnissen“ hätten. Riegel stellt die prinzipielle Möglichkeiten für widerständiges pädagogisches Handeln ausdrücklich als potentiell möglich heraus (115-116). Sie fundiert diese Option auf Veränderung unter Rückgriff auf erziehungswissenschaftliche Perspektiven auf Bildung als Transformation des Welt-Selbst-Verhältnisses (Kokemohr, Koller, Marotzki) sowie mit Bezug auf subjektwissenschaftliche Ansätze zu Lernen und Lehren (Haug, Holzkamp) theoretisch (116-128). Die Möglichkeiten würden im Lernen und der Bildung von Professionellen liegen, womit Riegel Pädagog*innen als Subjekte von Bildung begreift. Mit ihrer Studie verbindet Riegel damit aus handlungsorientierter Perspektive außerdem das Ziel, „Perspektiven und Möglichkeiten der Veränderung (in ihren Diskrepanzen und Schwierigkeiten) herauszuarbeiten“ (13). Möglichkeiten für die Verschiebung vorherrschender Verhältnisse sieht Riegel in Veränderungen der vorherrschenden sozialen Praxen sowie in der Transformation eigener Denk- und Handlungsweisen im Hinblick auf hegemoniale Verhältnisse (128, 131-132). „So zielt Bildung in Bezug auf pädagogisches Handeln im Horizont von Differenz und Ungleichheit und angesichts von Othering sowohl auf veränderndes als auch verändertes Denken und Handeln ab.“ (133, Herv. i. O. ) Mit dem „zweifachen Erkenntnisinteresse“ (12) der Autorin steht im Zentrum der Analyse das Spannungsfeld von Aufrechterhaltung und Transformation von Herrschaftsverhältnissen, in dem sich pädagogische Praktiken mit einem kritischen Anspruch bewegen.
Riegel fokussiert sich auf die schulische Bildungsarbeit, die außerschulische Jugendarbeit sowie auf Projekte der Bildungsarbeit. Dem empirischen Teil stellt die Autorin eine Darstellung der strukturellen und institutionellen Voraussetzungen für Differenz und Ungleichheit in den Bildungskontexten Schule und Jugendarbeit voran (Kapitel 3). In beiden Bereichen seien ausgrenzende Otheringprozesse bedeutsam: „Trotz anderer Ansprüche sind diese pädagogischen Institutionen und Räume im hegemonialen Machtgefüge widersprüchlich verstrickt. Sie sind mit ihrer gesellschaftlichen und sozialstaatlichen Rahmung so organisiert und strukturiert, dass soziale Ungleichheitsverhältnisse und vorherrschende gesellschaftliche Ordnungen tendenziell aufrechterhalten und reproduziert werden.“ (105) Außerdem verweist die Autorin mit Blick auf die Ebene des individuellen Agierens auf die Ambivalenzen einer differenzbezogenen Perspektive: Riegel erläutert das Dilemmata, das jede Anrufung von Unterschieden die benannten Differenzen auch perpetuiert und damit – unabhängig von den beabsichtigten Bildungszielen – Ungleichheitsverhältnisse bestätigt (110-113). Dem folgend sind Otheringprozesse in Bildungskontexten bzw. beim Handeln pädagogisch Professioneller unvermeidbar. Vor diesem Hintergrund untersucht Riegel, in welcher Weise Anderungen geschehen und wie pädagogische Fachkräfte mit welchen (potentiellen) machtvollen Effekten für vorherrschende Verhältnisse mit diesen Reproduktionen umgehen, „abwehrend [...] oder reflexiv mit der Perspektive der Erweiterung der Deutungs- und Handlungsmöglichkeiten“ (130) im Sinne von Bildungsprozessen von Pädagog*innen.
Im vierten Kapitel erörtert die Autorin das methodologische Potential der eingenommenen intersektionalen Analyseperspektive für die Erziehungswissenschaft bzw. die herrschafts- und machtkritische Erforschung von Otheringprozessen in Bildungskontexten. Im Anschluss legt Riegel das Erkenntnisinteresse dar und stellt die im Fokus der Untersuchung stehenden Bildungsprojekte in der Schweiz und Deutschland als Forschungskontexte vor (Kapitel 5). Im Rahmen der Projekte zum Thema Differenz, Diversität, Diskriminierung und Ungleichheit, an deren Entwicklung und Durchführung die Autorin teilweise beteiligt war, führten Pädagog*innen mit Jugendlichen Bildungsprogramme durch und besuchten begleitende Weiterbildungsworkshops. Riegel erklärt in diesem Abschnitt zudem das methodische Vorgehen und das Sample sowie die soziale Positionierung aller an der Studie beteiligten Akteur*innen. Die teilnehmenden Pädagog*innen, so Riegel, repräsentierten in ihrer Zusammensetzung „eine dominanzgesellschaftliche Hegemonie“ (168). Die Bildungsveranstaltungen wurden von der Forscherin begleitet und die Daten anhand von teilnehmender Beobachtung und ethnographischer Forschung, inklusive Videoaufnahmen, gesammelt. Hinzu kommen als Datenquellen Gespräche und leitfadengestützte Interviews mit den Pädagog*innen zum Ende des Projektes sowie Dokumentationsnotizen der Professionellen. Nach dem Prinzip der Offenheit erfolgte induktiv vorgehend eine gegenstandsbezogene Theorieentwicklung im Sinne der Grounded Theory und mit einer mehrebenenbezogenen Analyseperspektive betrachtet die Autorin den Untersuchungsgegenstand Othering kontextsensibel. Das Material zu den Interaktionen im pädagogischen Kontext wurde auf De_Thematisierungen von Differenzkonstruktionen und das intersektionale Zusammenwirken von Dominanz- und Diskriminierungsverhältnissen hin befragt und relevante Sequenzen feinanalytisch untersucht.
In der Ergebnispräsentation rekonstruiert Riegel anhand von zwei empirischen Fallstudien Mechanismen des Othering in den untersuchten Bildungskontexten und arbeitet dabei das Zusammenspiel verschiedener Differenzkonstruktionen heraus (Kapitel 6). Dies falle in Abhängigkeit der besprochenen Themen unterschiedlich aus. Vor allem in der Auseinandersetzung mit den Themen „Vielfalt“ und „Diversität“ griffen die Pädagog*innen auf kulturelle, nationale und religiös konnotierte Kategorien zurück. Damit würden – und hier bezieht sich Riegel auf Paul Mecheril – „natio-ethnokulturelle Zugehörigkeitsordnungen“ (177) aktualisiert, um eine bipolare Konstruktion von einem „Wir“ und „die Anderen“ zu entwerfen. Dabei spielten Vorstellungen von „(Nicht-)Intergriertsein“ genauso eine Rolle wie Differenzierungsprozesse mit Bezug auf Geschlecht, auch wenn diese nicht immer explizit erfolgten. Mit Blick auf die Diskurse der in der Jugendarbeit tätigen Pädagog*innen stellt Riegel heraus, wie bei den Otheringprozessen an vorherrschende Repräsentationen und dominante öffentliche Diskurse über Migrationsandere angeknüpft wird. Dabei würden „Bilder von ,unterdrückten Mädchen bzw. Frauen‘ und von ,patriarchalen und potentiell gewalttätigen Männern‘ in Migrationsfamilien gezeichnet und daran eine Differenz und das Anderssein im Hinblick auf Kultur und Religion konstruiert bzw. aufgezeigt.“ (185) Bei den Konstruktionen von Anderen spielten außerdem – häufig auch implizit bleibende – Vorstellungen von Klasse, Körper und Sexualität eine Rolle (219-222). „[E]rst durch die intersektionale Überlagerung von verschiedenen Differenz- und Dominanzverhältnissen“, so die Autorin, „fügt sich ein Bild zusammen, das dazu dienen kann, die Anderen als abweichend und nicht mit den Verhältnissen und Lebensweisen der Mehrheitsgesellschaft vereinbar zu konturieren und abzuwerten und somit deren Positionierung im Außen, als Nicht-Zugehörige festzuschreiben und zu legitimieren.“ (201) Als Mechanismen des Othering rekonstruiert Riegel unter anderem Zuschreibungen von Diskriminierungserfahrungen sowie Praktiken des „Zum-Schweigen-Bringens“, des „Nicht-Hörens“ und des „Sprechens über“ (214-219). Mittels dieser Strategien werde dominantes rassistisches Wissen im pädagogischen Kontext fachlich gefestigt. Von den Pädagog*innen aus Perspektive der Dominanzgesellschaft artikuliert, werde es zur pädagogische Botschaft gemacht (201).
In ihrer Erläuterung der Funktionen der aufgezeigten Otheringprozesse erklärt die Autorin, dass die pauschalisierenden und abwertenden Abgrenzungen der Aufwertung der vermeintlich „,eigenen‘ Kultur“ (189) dienten. Die Differenzmarkierungen hätten außerdem eine disziplinierende Funktion, die besonders bei verspürten Unsicherheiten seitens der Pädagog*innen bedeutsam sei (226). Daneben hätten sie auch auf Bildungschancen der Jugendlichen Auswirkungen, indem sie die Bewertung der Leistungen und Potentiale der Schüler*innen negativ beeinflussen könnten. Schließlich würden durch Otheringprozesse alle beteiligten Jugendlichen subjektiviert und der gesellschaftlichen Ordnung unterworfen: Während die Diskriminierungserfahrenden erneut eine marginalisierte Position und Ausgrenzung erfahren würden, lernten die privilegierten Schüler*innen Dominanz und die Absicherung von Privilegien (228). Othering ist demnach nach Riegel „das Lernen von Dominanzordnungen und von Positionierungen und Diskriminierungen in dieser Machtkonstellation – und hat damit sozialisatorische und bildende Wirkung.“ (228) Auf diese Weise würden mit Otheringprozessen vorherrschende Differenzordnungen abgesichert und die Ausgrenzung von bereits als anders markierten Gruppen gerechtfertigt. Allerdings macht Riegel auch deutlich, dass dies nicht Handlungsunfähigkeit bedeutet, weder seitens der Jugendlichen noch seitens der Pädagog*innen. Die Autorin rekonstruiert, dass die Jugendlichen durchaus Gegendiskurse zu den Kategorisierungen der Pädagog*innen entwerfen. Häufig übten sie Widerstand und Kritik an der Otheringpraxis, die aber durch die hierarchische Beziehung zwischen Lehrpersonen und Schüler*innen erschwert würden (231). In den Interviews erkennt Riegel außerdem Hinweise auf Bildungs- und Reflexionsprozesse der Pädgog*innen (Kapitel 7). Das Material ließe durchaus Veränderungen erkennen, die die Autorin anhand von zwei Fallstudien rekonstruiert: Die Pädagog*innen erklärten, dank des Fortbildungsangebotes für Diskriminierung sensibler sowie kritik- und handlungsfähiger geworden zu sein. Sie würden die eigene Verwobenheit in Diskriminierungsverhältnisse bzw. Beteiligung an Othering nach den Veranstaltungen besser erkennen und reflektieren können. Verantwortlich hierfür, so Riegel, sei unter anderem eine „potentiell krisenhafte Erfahrung“ (286), bei der gewohnte Denk- und Handlungsweisen infrage gestellt wurden. Riegel zeigt schließlich auf, dass die Transformationsprozesse aber nicht frei von Widersprüchen seien. Letztere gehörten insofern zum Bildungsprozess hinzu, als dass sie – wenn bewusst wahrgenommen, die kritische Reflexion von Denk- und Handlungsweisen auch vorantreiben könnten.
Mit der von Riegel vorgelegten Forschungsarbeit ist eine fundierte wissenschaftliche Studie erschienen, deren Befunde die Alltäglichkeit von Diskriminierung im institutionalisierten Bildungskontext aufzeigen. Der Autorin gelingt es, auf 315 Seiten ein höchst komplexes Thema gut verständlich und nachvollziehbar zu bearbeiten. Mit ihrer Untersuchung von Othering im Bildungskontext arbeitet Riegel auf anschauliche Weise in theoretischen und empirischen Studien heraus, dass es selbst in Bildungskontexten, die sich Diskriminierungskritik verpflichten, zu erneuten Erfahrungen von Ausgrenzung und Unterwerfung kommt. Ein vorrangiger Verdienst des Buches ist es, dass die Autorin trotz der Behandlung von Verstrickung gleichzeitig Möglichkeiten für eine Erweiterung von Handlungsspielräumen im Bildungskontext, die Differenzordnungen und Dominanzverhältnisse potentiell verändern können, aufzeigt. Eine Stärke des Titels bildet auch die Reflexion des Forschungsprozesses im Rahmen der Studie, die zudem einen wichtigen Beitrag zur Herausbildung einer Forschungsperspektive darstellt, die im Hinblick auf die Reproduktion vorherrschender Ungleichheitsverhältnisse in Bildungskontexten die interdependenten Überlagerungen gesellschaftlicher Unterdrückungs- und Machtverhältnisse mitdenkt. Damit ist das Buch nicht nur für den erziehungswissenschaftlichen Diskurs bedeutsam, sondern auch ein Muss für (angehende) pädagogische Fachkräfte, die sich der Herausforderung des pädagogischen Umgangs mit Differenz und Ungleichheit gegenübergestellt sehen, sowie für Bezugspersonen von Jugendlichen als Subjekte von Otheringprozessen im Bildungskontext. Aber auch für Nicht-Pädagog*innen ist die Studie, die einen Einblick in wesentliche Mechanismen von Diskriminierungen gibt, interessant, so dass der Titel für ein breites Lesepublikum empfohlen werden kann. Aufgrund seiner Leser*innenfreundlichkeit sowie der Aktualität und Relevanz des Themas Othering für den Alltag schließt das auch eine nicht-akademische Leser*innenschaft ein. Das Buch, das sich in acht Kapitel inklusive eines abschließenden Resümees (Kapitel 8) gliedert, enthält außerdem ein ausführliche Literaturliste, die zum Weiterlesen einlädt.
Jule Bönkost